Nassim Taleb
Taleb könnte man eher einen Philosophen nennen als einen Investor, Fondsmanager oder Guru. Seine Sichtweise ist jedoch äußerst relevant und interessant für Investoren. Zum einen aufgrund seines Blickes auf Finanzmärkte, wo die Begriffe „tail risk“ und „black swan“ eine ausgeprägte Rolle spielen. Zum Anderen weil er „Guruverehrung“ mit den nötigen Randnotizen versehen hat.
Durch das Gesetz der großen Zahlen spielt Glück eine viel größere Rolle als viele annehmen
Sie finden es womöglich etwas seltsam, dass wir diese Serie mit Nassim Taleb abschließen. Auch wenn er ein ehemaliger Derivatehändler ist, einen Hedgefonds besaß und momentan Universa Investments berät (als „wissenschaftlicher“ Berater), ist er kein traditioneller „Aktien-Guru“.
Eine kurze Einleitung zu seiner Weltanschauung ist unentbehrlich, um seine Position zu verstehen. Der zentrale Gedanke ist, dass wir das mechanische Zeitalter schon lange hinter uns gelassen haben. Die Herangehensweise eines Ingenieurs ist nicht länger hinreichend. Ob es nun um Finanzmärkte oder um die Gesellschaft im Allgemeinen geht: Systeme sind zu komplex und zu unvorhersehbar geworden.
Ein Ingenieur weiß, wie eine Maschine funktioniert und weiß auch, wie man sie repariert. Maschinen bestehen aus verständlichen, gleichbleibenden, kausalen Zusammenhängen. Komplexe Systeme, wie etwa die Wirtschaft, das Wetter oder Finanzmärkte sind jedoch voller überraschender und nichtlinearer Effekte, sodass man mit der Herangehensweise eines Ingenieurs nicht weit kommt.
Bekannt aus der Chaostheorie ist in diesem Zusammenhang der sprichwörtliche Schmetterling, der mit seinem Flügelschlag einen Sturm auf der anderen Seite der Erde verursacht. Taleb behauptet folglich, dass wir mit einer mechanischen kausalen Herangehensweise keine Ergebnisse bekommen werden. Die Systeme, die wir beherrschen möchten, sind schlichtweg zu komplex geworden. Computer, die sich dieser Komplexität annehmen, sind nur teilweise brauchbar. Ausgezeichnete Beispiele sind die Wirtschaftsvorhersagen, die komplexen mathematischen Modellen entstammen oder Wettervorhersagen, die mithilfe von komplizierten Computermodellen erstellt werden.
„It’s not a good idea to take a forecast from someone wearing a tie. If possible, tease people who take themselves and their knowledge too seriously.”
In Durchschnittsfällen sollte eine richtige Vorhersage durchaus gelingen, aber mit unerwarteten Wendungen tun sich diese Modelle ziemlich schwer.
Zum Beispiel: kein einziges wirtschaftliches Modell konnte die Finanzkrise von 2008 vorhersagen. Nur ein paar Wirtschaftler, darunter Nuriel Roubini oder auch Dr. Doom, prophezeiten aufgrund ihrer Beurteilung die Entstehung dieser Finanzkrise.
Antifragilität oder Robustheit ist ein anderer Begriff, der bei Taleb eine zentrale Rolle spielt. Mechanische Systeme sind fragil, während natürliche, komplexe Systeme eben unanfälliger sind. Diese haben selbstheilende Eigenschaften.
Vergleichen Sie zum Beispiel die Luftfahrt mit der Finanzindustrie. Die Luftfahrt ist robust („anti fragile“), da sie so eingerichtet ist, dass fliegen nach jedem Crash sicherer wird. In der Praxis werden gründlich Nachforschungen darüber angestellt, was schief gelaufen ist, und man probiert aus den gemachten Fehlern eine Lehre zu ziehen. Das System als Ganzes wird stärker durch das Scheitern von einzelnen Teilen: keines der Teile scheitert umsonst.
In der Finanzindustrie ist dies ganz anders. Das gesamte Finanzsystem ist enorm zerbrechlich. Kleine Fehler können sich wie fallende Dominosteine schnell durch das System bewegen und so zu enormen Katastrophen führen. Relativ einfaches Eingreifen könnte viel Elend verhindern. Es ist zum Beispiel viel praktischer, Finanzinstitutionen vermehrt mit Eigenkapital zu finanzieren anstelle von Fremdkapital. Eigenkapital kann ein Sinken der Einkünfte viel besser ausgleichen als Schuldenfinanzierung, ganz zu schweigen von einer Schuldenfinanzierung, die von einem enormen Leverage-Effekt gebraucht macht. Ein Leverage-Effekt vom bis zu 40-fachen des Eigenkapital war im Finanzsektor recht gebräuchlich, dies macht die jedoch Fehlertoleranz auch besonders klein.
Vergleichen Sie dies mit dem großen Dotcom-Crash von 2000. Viele Internetunternehmen kamen zu Fall, aber da sie mit Aktien finanziert wurden, hatte dies weniger Folgen für das gesamte System. Man könnte sogar sagen, dass das Scheitern individueller Unternehmen das System als Ganzes stärker gemacht hat. Dieser Prozess wurde durch den Ökonomen Joseph Schumpeter einmal als kreative Zerstörung umschrieben.
Dennoch stützt sich vieles unseres soziologisch-wirtschaftlichen Lebens auf das Vermeiden von Stress. Die Autoritäten versuchen, den Konjunkturzyklus komplett zu verbannen. Bei Unternehmen oder Finanzreinrichtungen wird jedem Hauch von Gegenwind mithilfe von Kapitalinjektionen des Staates, Steuersenkungen oder anderen Fördergeldern Einhalt geboten.
Laut Taleb ist das nicht gut. Das System bekommt auf diese Weise nicht die Chance, robust zu werden. Etwas, das wir aber gerade stimulieren müssen. Mittels Widerstandsfähigkeit erschaffen wir Institutionen, die durch einen evolutionären Trial-and-Error Prozess stärker gemacht werden. Ein gutes Beispiel ist die japanische Praxis, bei der Teile pünktlich („just-in-time“ oder JIT) geliefert werden. Das ist eine Produktions- und Vorratsverwaltung, die produktive Systeme auf eine evolutionäre Trial-and-Error Weise stärker macht. Was passiert genau? Die JIT-Lieferketten nehmen stets etwas von den Lagerbeständen, und zwar genauso lange bis es misslingt. Vorräte sind teuer, verschwenderisch und sie verschleiern Probleme. Bei dem zwingenden Verkleinern von Vorräten in der gesamten Angebotskette kommen die schwächsten Glieder automatisch zum Vorschein. Folglich können Spezialisten sich damit befassen, wie man diese verbessern kann. Ist dies einmal passiert, dann haben wir in der Angebotskette weniger Vorräte. Das ist nicht nur günstiger, sondern auch widerstandsfähiger. Und dann fängt der Prozess wieder von vorne an: es werden wieder mehr Lagerbestände entfernt bis es irgendwo hackt, etc. Ein lernendes und selbststärkendes System.
„We cannot truly plan, because we do not understand the future – but this is not necessarily a bad news. We could plan while bearing in mind such limitations. It just takes guts.”
Finanzmärkte und das Weißwaschen von schwarzen Schwänen
Interessant, denken Sie womöglich, aber was haben wir davon als Investoren? Mehr als Sie denken. Finanzmärkte sind komplexe Systeme, bei denen auf den ersten Blick kleine oder sogar komplett unscheinbare Ereignisse große Folgen haben können. Der Titel von Talebs bekanntestem Buch lautet daher auch „The Black Swan, The Impact of the Highly Improbable“.
Ein schwarzer Schwan ist hierbei ein seltenes Ereignis, das niemand vorhersieht. Trotzdem hat es große Folgen (sogenannte „outliers“). Ein vergleichbares Konzept ist „tail-risk“. Dieses verweist auf den langen „Schwanz“ einer statistischen Verteilung. Technisch gesehen ist tail-risk das Risiko, dass eine Investition mehr als dreimal die Standardabweichung einer normalen Verteilung erzielt. Im Volksmund reden wir hierbei über einen „schwarzen Schwan“: eine besonders kleine Chance.
Schwarze Schwäne sind eigentlich nicht vorherzusagen. Darum ist es nicht geschickt, unsere Energie in schwarze Schwäne zu stecken. Wir können diese Energie besser darauf verwenden, indem wir Finanzsysteme widerstandsfähig machen (oder, falls das zu ehrgeizig ist, beginnen wir mit unseren eigenen Portfolios). Wir müssen Schwächen im Finanzsystem (oder in unseren Portfolios) identifizieren und diese stärken. Auf diese Weise machen wir die „schwarzen Schwäne“ weiß. Genau wie im Fall der JIT-Ketten.
Wollen Sie, dass Ihr Portfolio einen Crash übersteht, dann ist es notwendig, die Fehlerkosten so niedrig wie möglich zu halten. Darüber hinaus müssen Sie Aktien von Unternehmen in Ihrem Portfolio haben, die gut in einer volatilen Umgebung funktionieren. Angesichts der Tatsache, dass Taleb kein Fondsmanager oder Guruinvestor mit Gefolge ist, werden seine Ratschläge nicht viel konkreter als das. Sie werden in seinen Büchern jedoch mit einer Regelmäßigkeit auf eine konträre Investmenthaltung stoßen. Darüber hinaus ist er absolut fasziniert von den Auswirkungen eines Crashs.
Taleb selbst war ein „Tail-Risk“-Händler. Ein äußerst vorsichtiger, konservativer Händler, der sich immerzu gegen Konsequenzen absichert, die schieflaufen könnten. Er findet es herrlich, kleinere Verluste zu machen, solange diese durch seine Gewinne kompensiert werden können, so Taleb in seinem Buch „Fooled by Randomness“. Vor allem der Kontrast zu seinen Kollegen ist interessant; ein extravaganter Händler, der große Positionen einnimmt und jahrelang viel mehr Rendite einholt als konservative Händler. Bis zu dem Tag, an dem es bei seinem Kollegen völlig misslingt und seine Positionen durch einen Tail-Risk Händler vom Tisch gefegt werden.
Ein Grund, warum wir Taleb als Guru auflisten, ist sein Buch „Fooled by Randomness. The Hidden Role of Chance in Life and in the Markets“. In diesem Buch beschreibt er seine Ansichten zu damaligen Kollegen und diese sind nicht gerade positiv. Im Kern behauptet Taleb, dass so gut wie alle Investmentstrategien nur unter bestimmten Umständen gut abschneiden. Unter diesen Umständen erscheinen die Personen, die diese Strategien anwenden, dann auch Genies zu sein. Hierdurch bekommen Sie viele Anhänger und Bewunderer. Etwas, das dem Genie ein ständig wachsendes Bankkonto bringt. Bei Veränderungen der Umstände kommen dann die Probleme. Die Strategie erzielt plötzlich keine Rendite mehr und die zuvor als Genie betitelte Person wird nun zum armen Stümper degradiert oder, eher noch, zum Hochstapler.
Taleb behauptet ebenfalls, dass von Genies keine Rede sein kann. Die Personen, die hieran geglaubt haben, waren `fooled by randomness´, oder sie sahen Willkür als Können an. Erstaunliche Leistungen machen blind. Der Kern dieser Betrachtungsweise ist in seinem Buch mit unglaublich starken Anekdoten, Studien und Geschichten schön dargestellt. Investmentgewinne sind größtenteils dem Glück zuzuschreiben.
Nehmen Sie das folgende Beispiel. Eine große Gruppe an Personen macht einen Wettbewerb im „Münze werfen“, wobei der letztendliche Gewinner $10.000 kassiert und die Verlierer direkt aus dem Rennen ausscheiden. Im Endeffekt bleibt eine kleine Gruppe an Personen übrig, die jedes Mal richtig vorhersagt, auf welche Seite die Münze fällt. Aber sind diese Menschen dann genial? Keineswegs! Wenn die Population nur groß genug ist, gibt es immer Personen mit einer umwerfenden Serie an korrekten Vorhersagen. Selbst wenn das auf purem Glück beruht.
Oder was denken Sie darüber. Wenn nur genug Affen hinter einem Textverarbeitungsprogramm platznehmen, kommt irgendwann von selbst ein verständlicher Text dabei heraus. Großartig ist die Geschichte von einem Newsletter, der an 80.000 Adressen verschickt wurde. An die eine Hälfte dieser Adressen wurde eine Analyse geschickt, warum der Markt im folgenden Monat sinken sollte, an die andere Hälfte eine Analyse warum der Markt gerade steigen sollte. Wenn der Markt in diesem Monat sinken sollte, scheiden die „Aufsteiger“ aus. Dadurch bleibt die Hälfte der Newsletterleser übrig. Ein neuer Newsletter wird anschließend mit demselben Konzept fabriziert: die eine Hälfte empfängt eine Analyse mit der Schlussfolgerung, dass der Markt sinkt, die andere Hälfte empfängt eine Analyse, dass der Markt steigt. Und wieder scheidet eine Hälfte aus. Im dritten Monat setzen wir dies fort mit 20.000 und so weiter. Im sechsten Monat bleiben letztendlich 2500 Adressen übrig, die selbstverständlich zutiefst vom Newsletter beeindruckt sind. Dieser hat den Markt fünf Monate nacheinander richtig vorhergesagt!
Kurzum, Taleb macht eine wertvolle Ergänzung, was die Relativierung der Guruverehrung betrifft. Durch das Gesetz der großen Zahlen spielt Glück eine viel größere Rolle als die meisten annehmen. Machen Sie immer Ihre Hausaufgaben und rechnen Sie mit dem Undenkbaren. Dann kommen Sie hoffentlich heil davon und erzielen auf lange Sicht eine großartige Rendite.